„In vertrauten Welten dominiert die Vergangenheit über Gegenwart und Zukunft.“ Niklas Luhmann
Das traditionsreiche Grimme-Institut wird 50 Jahre alt. Mit seinem Aufgabenprofil und seiner außergewöhnlichen Struktur ist es im deutschsprachigen Raum einzigartig. Auch nach fünf Jahrzehnten steht das Institut für den Diskurs über die Qualität von Medien. Beachtlich sind das Vertrauen und Renommee, die das Grimme-Institut gestern wie heute genießt. Darin liegt quasi das kulturelle Kapital der Institution, die seit 1973 gewachsen ist.
Rückblickend wirkte die Medienwelt in der Vergangenheit bis zur Jahrtausendwende stets vertraut, sie war überschaubar, die Kommunikationsmedien Fernsehen und Hörfunk bekannt sowie öffentliche Kommunikationsprozesse nachvollziehbar. Es gab den öffentlich-rechtlichen und den privaten Rundfunk, das übersichtliche duale System des analogen Zeitalters. Mit dessen Einführung im Jahr 1984 ging eine Kommerzialisierung der Medieninhalte einher, die maßgeblichen Einfluss auf die weitere Entwicklung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks hatte. Die Auswirkungen von Anpassung und Quotenorientierung seitens des beitragsfinanzierten Systems zeigen sich gegenwärtig in seiner Legitimationskrise. Allerdings löste die Einführung des privaten Rundfunks keinen revolutionären gesellschaftlichen Wandel aus. Er entwickelte sich vergleichsweise gemächlich, erst mit der Digitalisierung der Medien und der Massenkommunikation mit Beginn des 21. Jahrhunderts geht ein tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel einher. Die Digitalisierung hat unüberschaubare Tragweiten, deren Erfassung das Vermögen des Einzelnen, einer einzigen wissenschaftlichen Disziplin, der Politik oder Wirtschaft übersteigt.
Der Gründungsmythos, dass die Digitalisierung und das Internet der Gesellschaft Freiheit, Demokratie, Wohlstand und Frieden bringen würden, ist entzaubert. Entzaubert sind auch die Lenker der marktbeherrschenden global agierenden Digitalkonzerne. Ihnen geht es zuallererst um Kapital, Daten und weltumspannende Macht. Social Media erweist sich nicht als Umfeld von Freundinnen und Freunden. Mobbing, Fake News, Verschwörungsmythen, Hatespeech und sozialer Gruppendruck haben individuell wie gesellschaftlich zerstörerisches Potenzial. Ins Silicon Valley pilgert niemand mehr und auch wenn wir uns bereits im postdigitalen Zeitalter wähnen, stecken wir doch noch mitten in der Transformation von analog zu digital. Die Weiterentwicklung von sogenannter KI und die Möglichkeiten von ChatGPT werden tief in unsere Kommunikationsprozesse eingreifen und die künftige Entwicklung von Medien und ihren Inhalten beeinflussen, positiv und negativ.
Was bedeutet dies für das Grimme-Institut? Anlässlich des 25. Jubiläums des Grimme-Instituts schrieb Prof. Dr. Norbert Schneider, seinerzeit Direktor der Landesanstalt für Rundfunk NRW: „Die ersten 25 waren vielleicht nicht immer einfach. (...) Die zweiten 25 werden schwerer.“
Nach wie vor ist die wichtigste Ressource des Grimme-Instituts das Vertrauen, das in seine Arbeit gesetzt wird. Dieses kulturelle Kapital gründet auf der Diskursqualität des Instituts und seiner Preise. Die Diskursqualität zeichnet sich durch Rationalität, Konsistenz und Werteorientierung aus. Weitere wichtige Leitlinien der Arbeit des Grimme-Instituts sind die Unabhängigkeit der Diskurse und Preisentscheidungen. Der Qualitätsdiskurs bedient nicht die Aufmerksamkeitslogiken der digitalen Mediengesellschaft, sondern agiert sachlich und respektvoll und setzt damit die gleichen Maßstäbe an sich selbst an wie an die Medieninhalte, die das Institut bewertet. Die Werte, auf denen das Grimme-Institut gründet, also gewissermaßen seine DNA, hat Bert Donnepp maßgeblich geprägt. Das ethische Leitbild basiert auf Zielsetzungen und Anforderungen, die der Deutsche Volkshochschul-Verband mit der Stiftung des (Adolf-)Grimme-Preises im Jahr 1964 verbunden hat und die ein wesentliches Element der Erwachsenenbildung sein sollten. Eine gemeinsame Grundbildung sollte die Fertigkeiten übermitteln, „von denen in der modernen Massengesellschaft der Bestand der Demokratie abhängt“, hieß es im Statut des Adolf-Grimme-Preises von 1964. Und zur politischen Grundbildung sollte „der rechte Umgang mit Rundfunk, Fernsehen, Film und Presse“ gehören. Diese könnten zur „selbständigen Urteils- und Willensbildung beitragen, wenn der Bürger fähig und bereit ist, sich ihrer in freier Auswahl zu bedienen, ihre Informationen und Darstellungen kritisch aufzunehmen und selbständig zu verarbeiten“. Der Deutsche Volkshochschul-Verband sah die Fähigkeit und den Willen der Gesellschaft „zur selbständigen Kritik und die Fähigkeit und Bereitschaft zu vertrauen“ in Gefahr. Die Erwachsenenbildung wollte dem mit der Stiftung dieses Fernsehpreises entgegenwirken und Vertrauen und Kritikfähigkeit der Gesellschaft stärken. Der (Adolf-)Grimme-Preis verfolgte bei der Qualitätsbewertung von Fernsehproduktionen von Beginn an einen medienbildenden Ansatz, der dazu beitragen sollte, demokratische Prozesse der Meinungsbildung zu unterstützen und einen aufgeklärten und kritischen Umgang mit Massenkommunikation zu fördern. Diese Aufgabenstellung ist aktueller denn je. Als Teil des Statuts des Grimme-Preises von 1964 dienten die Leitlinien des Deutschen Volkshochschul-Verbands als Grundlage für die Bewertung eingereichter Sendungen. Die Gründungs-DNA ist nach wie vor prägend für die Arbeit des Grimme-Instituts und seiner Preise. Die Aufgabe des Grimme-Instituts ist der konstruktiv-kritische Diskurs über die Qualität der Medien und die damit zusammenhängenden Kommunikationsprozesse, die dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen sind. Folgerichtig hat sich das Institut in den vergangenen fünf Jahrzehnten wandeln müssen, nicht zuletzt aufgrund der Digitalisierung der Massenmedien und der gesellschaftlichen Veränderungen. Heute geht es zwar immer noch um das Fernsehen und das Radio. Aber bereits im Jahr 2001 hat sich das Grimme-Institut mit der Entwicklung des Grimme Online Award dem Internet zugewendet. Im Jahr 2015 hat sich der Grimme-Preis dem Netz geöffnet und bewertet seitdem nicht nur linear ausgestrahlte, sondern auch die von Plattformen verbreiteten Produktionen. Auch wenn das lineare Fernsehen weiter bestehen wird, war dies ein zentraler Transformationsschritt für das Grimme-Institut.
Norbert Schneider hatte recht, die letzten 25 Jahre waren schwerer als die analogen Jugendjahre des Grimme-Instituts. Und die nächsten 25 Jahre? Es wird darum gehen, das digitale Zeitalter zu verstehen und zu gestalten. Künftig wird es um die Auswirkungen von KI und ChatGPT gehen und damit um Medieninhalte, die algorithmisch generiert werden. Über die konkreten Auswirkungen auf den Journalismus, den öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk, die Zeitungsverlage sowie die Kulturbranche wird gegenwärtig intensiv spekuliert. Was wir aber wissen, ist, dass diese digitalen Instrumente die Unterscheidung von Wahrheit, Lüge und Manipulation noch schwerer machen werden. Gleichzeitig sind globale Krisen zu bewältigen, die Klimakrise und die geopolitische Neuordnung infolge des völkerrechtswidrigen Angriffs Russlands auf die Ukraine, mit der realen Gefahr der Ausweitung dieses Krieges. Die strategische Desinformation und staatliche Manipulation stellen im digitalen Zeitalter ein unberechenbares und zugleich wirksames Machtinstrument, nicht nur für autokratische Staaten und die Kriegsberichterstattung, dar.
Das Vertrauen in öffentliche Kommunikationsinhalte herzustellen, wird insgesamt noch anspruchsvoller werden. Dabei ist es existenziell, dass die meinungsbildenden gesellschaftlichen Diskurse für die freiheitliche Demokratie auf Fakten und manipulationsfreien Inhalten basieren.
Einfacher werden die nächsten 25 Jahre also sicher nicht. Nach 50 Jahren ist das Grimme-Institut aber eine verlässliche Größe und zu einer Institution gereift, die jenseits der schrillen Aufmerksamkeitslogiken der digitalen Mediengesellschaft am Standort in Marl wertebasiert über die Qualität von Medien reflektiert und Medieninhalte beurteilt. Angesichts der Herausforderungen, vor denen die Gesellschaft steht, kann das Grimme-Institut auch in Zukunft seinen spezifischen Beitrag zur Orientierung und Medienbildung leisten.
Die Bedingungen, unter denen Vertrauen in Institutionen entsteht oder erhalten bleibt, erscheinen heute, anders als vor 50 Jahren, denkbar schlecht. Vertrauen ist und bleibt, gerade auch in existenziellen Krisenzeiten, ein „elementarer Tatbestand des sozialen Lebens“, der „in die Zukunft gerichtet“ ist: „Man unterstellt, dass das Vertraute bleiben, das Bewährte sich wiederholen, die bekannte Welt sich in die Zukunft hinein fortsetzen wird“, so Niklas Luhmann. Für das Grimme-Institut und sein kulturelles Kapital, das Vertrauen in seine Qualitätsurteile und Qualitätsdiskurse, gilt es, dieses Vertrauen zu bewahren und zu schützen, indem das Bewährte in der ungewissen Zukunft fortgesetzt wird. Zugleich wird sich das Institut stetig verändern und sich den Anforderungen an das digitale Kommunikationszeitalter und gesellschaftlichen Veränderungen weiterhin anpassen müssen. Damit auch die nächste Generation dem Grimme-Institut ihr Vertrauen schenkt.
Dr. Frauke Gerlach